Der Wiener Zentralfriedhof
Ein Ort der Ewigkeit und Tradition
Im November gedenken wir unseren Verstorbenen, lassen das Dunkle, die Trauer zu und ahnen mit den guten Erinnerungen an unsere Lieben und dem bevorstehenden Advent das wärmende Licht. Ganz unterschiedlich ist der Umgang mit dem Tod in den verschiedenen Religionen, Kulturräumen, Sprachen – die einen betonen eher den Verlust, andere feiern das Leben.
Zu meinen regelmässigen Aufenthalten in Wien gehört jeweils auch der Besuch des Zentralfriedhofs. Er ist einer der grössten Friedhöfe Europas und ein bedeutendes kulturelles Wahrzeichen der Stadt. Über 80 Kilometer Wegnetz erstrecken sich über diesen 2,5 Quadratkilometer grossen Friedhof und ist damit grösser als die Wiener Innenstadt. 3 Millionen Menschen wurden seit der Eröffnung im Jahr 1874 dort bestattet. 15'000 Bäume wachsen auf der Anlage und 35 Kilometer Hecken müssen gepflegt und geschnitten werden. Pro Jahr finden 4000 Beerdigungen statt, 4000 Gräber werden wieder aufgehoben, rund 300'000 Grabsteine und Mausoleen gibt es.
Besonders bekannt ist der Ehrengräberbereich, in dem bedeutende Musiker wie Ludwig van Beethoven, Johann Strauss und Franz Schubert ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Etwas abseits findet man aber auch das immer noch sehr gut besuchte Grab von Falco oder den Flügel aus Marmor von Udo Jürgens. Und natürlich die Gräber von vielen Politikern und Schauspielern wie Helmut Qualtinger oder Christiane Hörbiger.Doch der Zentralfriedhof ist mehr als nur ein Grabmal für die Berühmten. Er ist ein Spiegel der Wiener Kulturgeschichte und verkörpert die multireligiöse und kosmopolitische Natur der Stadt. Neben christlichen Gräbern gibt es auch separate Abteilungen für Juden, Muslime und Buddhisten, was den Friedhof zu einem Symbol des friedlichen Zusammenlebens macht.
So ist einer der berührendsten Abteilungen wohl der jüdische Teil. Viele Gräber zerfallen (siehe Bild), Grabsteine stürzen von ihren Sockeln, die Natur überwächst alles. Auch der Tod ist vergänglich. Und zwischen diesen Gräbern, die manchmal mehr Ruinen sind als etwas Anderes, grasen in aller Ruhe Rehe.
Ein Grab hat mich vor ein paar Jahren besonders beeindruckt: Es ist eher ein Mausoleum, schwarzer Marmor und unglaublich gross. Die Grabstätte gehört einer berühmten Schaustellerfamilie des Wiener Praters. Das Bild des alten Schaustellerpaares wurde eingraviert, ebenso das Geburtsjahr der beiden. Das Todesjahr fehlte. Es fehlte, weil die beiden noch lebten. Man erzählt sich, die Familie treffe sich jeweils am Sonntagnachmittag, setze sich dort auf die steinernen Stühle, die direkt in der Grabstätte eingebaut sind, rauche eine Zigarette oder auch zwei und sinniere über das Leben. Ein Memento Mori (Gedenke des Todes) in seiner Reinform. Inzwischen ist das alte Ehepaar verstorben, auch das Todesjahr wurde eingraviert. Die Familie trifft sich dort noch immer – auch im Wissen darum, dass irgendwann wieder ein Foto, ein Geburtsjahr und ein Todesjahr eingraviert wird. Im ersten Moment irritiert dieses Verhalten, vielleicht kann man es abtun mit dem typischen Umgang der Wiener mit dem Tod, und doch, je länger mich diese Vorstellung begleitet: Es lässt einen auch intensiver leben. Oder wie Charlie Brown von den Peanuts einmal ganz niedergeschlagen zu seinem Hund Snoopy sagte: «Eines Tages werden wir alle sterben.» Und Snoopy erwiderte schwanzwedelnd und ganz in der Gegenwart: «Ja, eines Tages werden wir alle sterben, aber an allen anderen Tagen nicht.»
Pfarrerin Cindy Gehrig