Künstliche Intelligenz und Frankenstein
Seit über zwei Jahren ist nun Künstliche Intelligenz für eine breite Öffentlichkeit zugänglich, daneben auch künstliche Bildgenerierung. Was diese Sprach- und Bildermaschinen produzieren, sorgt immer wieder für Euphorie, aber auch für Ängste.
Die Ergebnisse sind so gut, dass bereits jetzt schon eine Reihe von Berufen durch die Künstliche Intelligenz ersetzt wurden, wie etwa Kundendienstleister oder Grafiker in grossen Unternehmen. Eine weitere Fähigkeit dieser Programme ist das Fälschen von Bildern und Stimmen. Bei einer solchen Entwicklung geht unweigerlich das Gespenst des Fortschritts um. Die Ungewissheit, welche die Entwicklung mit sich bringt, wirkt bedrohlich, gleichzeitig faszinieren die neuen Möglichkeiten.
Wir sollten uns von der Künstlichen Intelligenz aber nicht ins Bockshorn jagen lassen. Das englische Wort Intelligence ist nicht gleichbedeutend wie das deutsche Wort Intelligenz. Es steht im Englischen für das Sammeln und Verarbeiten von Daten. So bedeutet CIA trocken übersetzt «Zentrale Datensammlungs- und Verarbeitungs-Agentur».
Das ist auch der Kern der Sprach- und Bildermaschinen, die wir unter Künstlicher Intelligenz verstehen. Es werden menschliche Daten gesammelt und was dann am Ende ausgespuckt wird, ist reine Statistik, also keine intelligente Überlegung. Wenn die Sprachmaschine uns ein Liebesgedicht schreibt, weiss sie nicht, was Liebe ist.
Mit dieser Arbeitsweise und mit Blick auf das Gespenst des Fortschritts erinnert uns die Künstliche Intelligenz stark an die Geschichte von Dr. Frankenstein. In dem gleichnamigen Roman fügte der junge Doktor menschliche Körperteile zu einer neuen Kreatur zusammen, die am Ende alle seine Liebsten umbringt. Frankenstein hatte ein Monster geschaffen.
Der Roman Frankenstein von Mary Shelley, der 1818 zunächst anonym veröffentlicht wurde, war stark von der Entdeckung von Luigi Galvani (1780) beeinflusst. Er entdeckte nämlich, dass man mit Elektrizität Froschschenkel bewegen konnte.
Diese Entdeckung beflügelte die Spekulationen der Menschen über die Möglichkeiten der Wissenschaft. Mit Frankenstein traf Mary Shelley den Nerv der Zeit. Ein künstlich geschaffener Mensch greift auf grausame Art und Weise in das Leben seines Schöpfers ein. Auf literarisch geschickte Weise verknüpft sie verschiedene wissenschaftliche und auch gesellschaftliche Themen miteinander.
Die Aspekte, welche Mary Shelley mit ihrem Roman aufzeigt, sind heute immer noch aktuell, wenn wir uns mit der Künstlichen Intelligenz befassen. So etwa die Frage, wie viel Menschliches steckt in etwas drin, dass aus verschiedenen menschlichen Bruchstücke zusammengesetzt ist. Oder die Frage, wie viel Ethik braucht die Wissenschaft, damit sie keine Monster produziert.
Doch die wichtigste Erkenntnis aus dem Roman Frankenstein ist wohl die Bedeutung der Liebe. Frankensteins Kreatur ist bösartig, weil sie von seinem Schöpfer verstossen wurde. Er war so entsetzt über seine Schöpfung, dass er sie alleine liess.
In einer spektakulären Konfrontation auf dem «Mer de Glace», oberhalb von Chamonix, berichtet die Kreatur seinem Schöpfer Frankenstein von seinem tugendhaften Verhalten, seinen Lernfortschritten, von seiner Einsamkeit – und vom Hass und der Verfolgung durch Menschen, sobald es sich ihnen gezeigt habe: «Ich war gütig und gut. Nur das Elend liess mich böse werden. [...] Ich bin bösartig, weil ich unglücklich bin.»
Jedes Geschöpf braucht Liebe, sonst wird es böse. Diese Erkenntnis sollten wir nicht vergessen, bevor wir uns ausmalen, wie die Künstliche Intelligenz unser Leben vereinfachen oder verschlimmern könnte. Das wichtigste, was der Mensch braucht, ist die Liebe.
Pfarrer Stephan Krauer